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OSZE-Vertreter in weißen Westen im Donbass.

© dpa/Tass/Mikhail Sokolov

OSZE-Generalsekretärin Helga Schmid: „Das organisierte Verbrechen profitiert auch von diesem Krieg“

Helga Schmid leitet die Gesellschaft zur Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Ein Gespräch über Verhandlungen mit Moskau, feministische Außenpolitik und den Protest im Iran.

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Frau Schmid, der deutsche Außenminister Klaus Kinkel sagte vor 30 Jahren nach seinem ersten Besuch bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) kopfschüttelnd auf Schwäbisch, „Des ischa Schwatzbud‘“, also „Das ist eine Quasselbude“. Hatte er recht?
Nein. Die OSZE ist im Kalten Krieg entstanden, mitten in der Konfrontation von Ländern, die sehr unterschiedliche Vorstellungen von der Welt hatten. Da war es sehr wichtig, dass man sich an einen Tisch gesetzt und geredet oder, um Klaus Kinkel aufzunehmen, miteinander „geschwätzt“ hat. Man hat damals keine Freundlichkeiten ausgetauscht, man kam zu konkreten Ergebnissen. Das war damals richtig und ist es noch.

Sie haben als Referentin von 1994 bis 1998 in Kinkels Büro gearbeitet. Hat er noch gelernt, wie wichtig die OSZE war und ist?
Durchaus, Klaus Kinkel hat auch an Ministertagungen der OSZE teilgenommen. Ich würde seinen Spruch, den Sie zitieren, nicht wortwörtlich nehmen. Er hat ja immer das Herz auf der Zunge getragen.

Inzwischen hat Russlands Angriffskrieg die europäische Nachkriegsordnung zerstört. Die OSZE war ein wichtiger Baustein dieser Ordnung. Ist damit nicht die Voraussetzung Ihrer Arbeit hinfällig?
Wir haben in der OSZE wirklich alles versucht, um den Einsatz militärischer Mittel seitens Russlands zu verhindern. Noch Anfang Februar 2022 haben wir auf Ministerebene Russland einen neuen Sicherheitsdialog angeboten, in dem man die Beschwerden aller anhört und versucht, die Probleme gemeinsam zu lösen, am Verhandlungstisch.

Die OSZE hat 57 Teilnehmerstaaten. 56 davon waren zu diesem neuen Sicherheitsdialog bereit. Nur die Vertreter eines Landes stellten sich dagegen.

Sie sprechen von Russland …
Richtig. Im Nachhinein ahnt man, warum: Die Moskauer Führung hatte zu diesem Zeitpunkt ihre Entscheidung schon längst getroffen.

Auch für mich war der 24. Februar ein Albtraum.

Helga Schmid über den russischen Angriff auf die Ukraine

Wie gehen Sie mit der im vergangenen Jahr entstandenen Situation um?
Auch für mich war der 24. Februar ein Albtraum. Um fünf Uhr bin ich aufgewacht, als Erstes telefonierte ich mit dem Leiter unserer zivilen Beobachtermission, in deren Rahmen ursprünglich 1300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der ganzen Ukraine tätig waren. Sie überwachten bis dahin auch den Waffenstillstand an der Kontaktlinie, handelten lokale Waffenstillstände aus, damit beschädigte Infrastruktur repariert werden konnte und unterstützten die Zivilbevölkerung auf beiden Seiten.

Mussten Sie Ihre Leute nicht in Sicherheit bringen?
Der Leiter der Mission war in Kiew, im Hintergrund hörte ich die Sirenen heulen. Die zum damaligen Zeitpunkt noch 500 internationalen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter konnten wir im Laufe der anschließenden Wochen alle außer Landes bringen, die männlichen ukrainischen Ortskräfte durften wegen des Kriegsrechts nicht ausreisen. Eine unserer ukrainischen Mitarbeiterinnen wurde bei einem Raketenangriff getötet, als sie in einer Apotheke Medikamente für einen nahen Angehörigen holen wollte.

Konnte die OSZE ohne Einstimmigkeit überhaupt politisch auf den Angriff reagieren?
Kurz nach Kriegsbeginn hat beispielsweise eine klare Mehrheit der OSZE-Länder den so genannten Moskau-Mechanismus in der OSZE aktiviert. Er ermöglicht, dass Experten Verletzungen des internationalen humanitären Rechts in der Ukraine dokumentieren konnten.

Trotzdem blockiert Russland den Haushalt der OSZE, weil der nur einstimmig verabschiedet werden kann. Wie können Sie trotzdem weiterarbeiten?
Wir mussten leider zunächst alle Feldmissionen und Projekte, die wir in der Ukraine hatten, beenden. Wir haben aber seitdem ein völlig neues Modell, in dem eine Vielzahl von Ländern Projekte in der Ukraine direkt finanzieren. Darauf bin ich wirklich stolz. So können wir wieder in der Ukraine arbeiten und der Zivilbevölkerung helfen, etwa bei der Minenräumung, der Stärkung der Cybersicherheit oder den Frauen, die Opfer von Gewalt geworden sind.

OSZE-Mitarbeiter beobachten 2015 die Exhumierung von ukrainischen Soldaten in Donezk.
OSZE-Mitarbeiter beobachten 2015 die Exhumierung von ukrainischen Soldaten in Donezk.

© dpa/epa/Alexander Ermochenko

Aber ist Ihrer Organisation, die für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa sorgen soll, nicht komplett ihre Grundlage entzogen?
Ihre Frage ist auf den ersten Blick durchaus nachvollziehbar, aber nein: Wir unterhalten insgesamt zwölf Feldmissionen, in zentralasiatischen Ländern, im Westbalkan und in Moldau. Die Mission in Moldau ist eine sehr wichtige, weil wir als einzige Organisation weiter die Lage in der Sicherheitszone überwachen und als Vermittler bei der Lösung des Transnistrien-Konflikts zwischen beiden Seiten fungieren.

Bereiten Sie sich denn auch auf den Tag vor, an dem es hoffentlich gilt eine Waffenruhe oder gar einen gerechten Friedensvertrag zwischen Russland und der Ukraine zu überwachen?
Dazu kann ich Bundespräsident Steinmeier zitieren, der vor kurzem in einem Interview von einem Journalisten nach dem Friedensplan Chinas gefragt wurde und gesagt hat: Jeder konstruktive Vorschlag auf dem Weg zu einer gerechten Friedensordnung sei willkommen, aber dazu muss man eben nicht nur mit Moskau, sondern vor allem mit Kiew sprechen – und das muss unter dem Dach der Vereinten Nationen geschehen. Wenn diese Gegebenheiten vorliegen werden, ist auch die OSZE bereit, ihren Beitrag zu leisten, wie wir es bereits in der Vergangenheit getan haben.

Noch ist es leider nicht so weit. Was tut die OSZE, um den Flüchtlingen zu helfen?
Das organisierte Verbrechen profitiert leider auch von diesem Krieg. Die Flüchtenden sind zu 90 Prozent Frauen und Kinder. Im Internet ist die Zahl der Angebote zur Prostitution mit ukrainischen Frauen und zur Kinderpornografie seit einem Jahr exorbitant gestiegen. An den Grenzen warten oft Menschenhändler, die Frauen mit falschen Versprechen anlocken. Wir haben beispielsweise Aufklärungs- und Hilfskampagnen im Netz gestartet, Hotlines geschaltet, über die wir die Frauen beraten und sind in engem Kontakt mit den Ländern, die geflüchteten Ukrainern Schutz bieten.

Wir haben keinen Mechanismus, um einem Teilnehmerstaat die Tür zu weisen.

Helga Schmid

Die Schlussakte von Helsinki ist das Gründungsdokument Ihrer Arbeit. Sie garantiert das Recht jedes Staates auf territoriale Integrität, Freiheit und Sicherheit. Was sind diese Sätze noch wert?
Diese Prinzipien gelten weiter und werden nicht falsch, nur, weil ein Land sie mit Füßen tritt. Im Gegenteil: Vergangenes Jahr hat der OSZE-Ministerrat mit mehr als 40 Ministerinnen und Ministern in Polen getagt. Er hat unsere Grundsätze ausdrücklich bekräftigt.

Warum schließt die Mehrheit, die sich zu diesen Prinzipien bekennt, Russland nicht aus?
Wir haben keinen Mechanismus, um einem Teilnehmerstaat die Tür zu weisen. Trotzdem gibt es in der OSZE keinen Zweifel, wer der Aggressor ist. Und auch ich als Generalsekretärin sage klar: Ein Angriffskrieg ist ein Angriffskrieg. Trotzdem wäre ich dagegen, Russland auszuschließen, selbst wenn es dafür ein Verfahren gäbe. Es bleibt wichtig, dass die OSZE-Botschafterinnern und Botschafter aller Mitgliedsländer jeden Donnerstag an einem Tisch sitzen und sprechen.

Was besprechen Sie da?
Da werden keine Nettigkeiten ausgetauscht, sondern die Differenzen klar benannt. Der erste Tagesordnungspunkt ist immer der Krieg gegen die Ukraine, die diplomatischen Vertreter Russlands müssen sich dort regelmäßig harter Kritik stellen. Aber Gesprächskanäle bleiben wichtig, beispielsweise auch im Kampf gegen den Klimawandel, für mich eine der existentiellsten Fragen des 21. Jahrhunderts.

Einen Gesprächskanal hatten Sie viele Jahre auch mit Russlands Außenminister Sergej Lawrow. Ist der noch intakt?
Wir hatten während der Verhandlungen zum iranischen Atomprogramm viel Kontakt. Seit dem 24. Februar 2022 gab es keine Gespräche mehr.

Sie erwähnen das Abkommen mit Teheran, das kaum jemand besser kennt als die damalige Chefin des Europäischen Auswärtigen Dienstes.
Das stimmt wohl, weil ich große Teile des Atomabkommens selbst verhandelt habe.

Wie weit ist der Iran vom Zugriff auf Nuklearwaffen entfernt?
Laut den jüngsten Berichten der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) ist die Lage dramatisch, der Iran ist demnach technisch in der Lage, Uran auf mehr als 83 Prozent anzureichern, das ist nicht weit weg von der Bombe. Durch das Nuklearabkommen war die Anreicherung auf 3,6 Prozent beschränkt.

Sie haben das Abkommen für die EU federführend mitverhandelt. Wenn Sie heute die Aufstände im Iran sehen und die gewaltsame Reaktion des Regimes, die durch das Abkommen in gewisser Weise stabilisiert wurde: War der Versuch trotzdem richtig?
Unbedingt. Eine unendlich große Chance wurde dann leider später vertan. Wir hatten uns zunächst auf das dringendste Problem, die Atomfrage konzentriert. Unser Ziel war immer, nach Lösung der Nuklearfrage eine breitere Kooperation mit dem Land einzugehen, um positiv zu Veränderungen beitragen zu können. Die EU hat dem Iran solche Angebote unterbreitet, zum Beispiel im Umweltbereich. Auch ein Menschenrechtsdialog wurde initiiert.

Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass Friedensverhandlungen langfristig Erfolg haben, wenn Frauen an ihnen beteiligt sind.

Helga Schmid über feministische Außenpolitik

Aber?
Leider hat dann der damalige US-Präsident Donald Trump entschieden, am 8. Mai 2018 aus dem Abkommen auszusteigen. Dabei hatte die IAEO bis dahin alle Vierteljahre klar dokumentiert, dass der Iran alle seine Verpflichtungen aus dem Abkommen erfüllt hatte. Dann fühlte sich auch der Iran nicht mehr daran gebunden, die damalige verhandlungsbereite Regierung von Hassan Rohani wurde abgelöst.

Die EU hatte dem Iran auch deshalb Investitionen in Aussicht gestellt. Warum kamen die nicht voran?
Die EU hielt nach Trumps Ausstieg geschlossen am Abkommen fest. Aber auch europäische Banken und Firmen waren von den exterritorialen Sanktionen der USA betroffen, wollten verständlicherweise ihr Amerikageschäft nicht gefährden und verzichteten deshalb auf das mit dem Iran.

Mussten Sie als Diplomatin generell Widerstände überwinden, die männliche Kollegen nicht im Wege standen?
Schon als junge Diplomatin habe ich die Erfahrung gemacht, dass meine Argumente nicht zur Kenntnis genommen wurden, wenn ich sie in einer Runde vorbrachte. Wenig später trug ein Mann die gleichen Argumente vor, und alle gingen darauf ein. Das ist eine Erfahrung, die junge Frauen leider bis heute oft machen. Ich war die erste Referentin im Büro des Außenministers, die erste Frau, die es geleitet hat, und ich war die erste Frau, die den Auswärtigen Dienst der EU geleitet hat.

Außenministerin Annalena Baerbock hat für das Auswärtige Amt gerade Leitlinien für eine feministische Außenpolitik erarbeiten lassen. Begrüßen Sie das?
Ja, ich schätze das Engagement von Außenministerin Annalena Baerbock sehr. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass Friedensverhandlungen langfristig Erfolg haben, wenn Frauen an ihnen beteiligt sind. Die OSZE engagiert sich schon lange für die gleichberechtigte Einbeziehung von Frauen, wir haben dafür viele Programme aufgelegt. Wir haben auch auf Direktorenebene einen Frauenanteil von 50 Prozent.

Beim iranischen Atomprogramm scheint die Diplomatie am Ende, ähnlich wie bei Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. Entmutigt Sie das als Diplomatin?
Natürlich nicht. Diplomatie ist weiter entscheidend, vor allem Konfliktprävention, wie zum Beispiel die Arbeit der OSZE auf kommunaler Ebene, etwa in den Ländern des westlichen Balkans. Was für so viele Bereiche gilt, stimmt leider auch für die OSZE: Solange es nicht kracht, interessieren sich dafür nur wenige, das macht unsere Arbeit aber nicht weniger wertvoll.

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